Eine frühe Förderung der Lesesozialisation ist der Schlüssel für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb von Lernenden. Wie Family Literacy zu mehr Chancengleichheit beitragen kann und was Sie konkret für Ihre Lerngruppe tun können, erfahren Sie in diesem Beitrag!

Nicht nur im Deutschunterricht sind sprachliche Kompetenzen relevant, sondern ausnahmslos in allen Fächern. Auch in Physik, Mathe oder Musik müssen Texte und Aufgaben gelesen und verstanden werden, um erfolgreich am Unterrichtsgeschehen teilnehmen zu können. Die individuelle Sprachkompetenz eines Kindes entscheidet somit maßgeblich über seine Zukunftschancen. Auch deshalb werden die Forderungen nach einem sprachsensiblen Unterricht und einer durchgängigen Sprachförderung in allen Fächern immer lauter.

Doch der Knotenpunkt für eine effektive Förderung liegt nach wie vor in der frühkindlichen Erziehung des Elternhauses – also weit vor Schulbeginn. Besonders Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten oder bildungsfernen Familien brauchen unterstützende Maßnahmen, die ihre Lesesozialisation vorantreiben und folglich ihren Schriftspracherwerb fördern. Das Stichwort lautet hier: Family Literacy. Wie Sie als Lehrkraft dazu beitragen können, den Schriftspracherwerb von Kindern ganzheitlich zu fördern, erfahren Sie in diesem Beitrag.

Heterogenität gehört zum Schulalltag

Kinder kommen nicht als Tabula Rasa, als unbeschriebenes Blatt, in die Schule. Sie haben bereits vielfältige Spracherfahrungen gesammelt und können sich in ihrer Muttersprache für gewöhnlich verständlich ausdrücken. Die Unterschiede in der Sprachkompetenz von Schülerinnen und Schülern einer gleichaltrigen Lerngruppe sind dennoch teilweise enorm.

zwei unterschiedliche Probleme und Lösungswege

Heterogenität innerhalb einer Lerngruppe ist für Sie als praktizierende Lehrkraft sicher nichts neues. Jedes Kind ist individuell und bringt ganz eigene Lernvoraussetzungen mit, auf welche Sie im Unterricht adäquat reagieren müssen. Während der zehnjährige Joschua bereits über eine beachtliche Sprachkompetenz verfügt, gerne liest und gute Leistungen erbringt, fällt es der gleichaltrigen Josephine beispielsweise sehr schwer, Texte zu lesen oder sich zum Bearbeiten von Arbeitsaufträgen überhaupt zu motivieren. Doch woran liegt das?

Elternhaus und Schulerfolg

Dass Kinder pädagogische Einrichtungen wie Kitas und Schulen mit unterschiedlichen literalen Voraussetzungen betreten und verlassen, hängt zum einen von den Einrichtungen selbst und zum anderen vom Elternhaus ab. Besonders beim Erwerb der Muttersprache lassen sich solch starke Unterschiede beim Leistungsstand oder Kompetenzerwerb meist auf die jeweiligen Sozialisationsbedingungen der Lernenden zurückführen. Untersuchungen wie die PISA-Studien zeigen speziell im sprachlichen Bereich einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und dem Schulerfolg der Lernenden.[1]

Die Familie eines Kindes gilt lange vor der Einschulung als Dreh- und Angelpunkt des Schriftspracherwerbs von Kindern, sodass Bildungseinrichtungen bzw. pädagogische Fachkräfte lediglich einen geringen Einfluss auf die Lesesozialisation von Heranwachsenden haben.

Kinder malen Familie mit Kreide auf Straße

Es stellt sich also die Frage: Wie kann pädagogische Intervention dennoch gelingen? Ada Sasse, Professorin für Grundschulpädagogik mit dem Schwerpunkt Deutsch an der Humboldt-Universität zu Berlin, konstatiert, dass den Auswirkungen von Bildungsbenachteiligungen am effektivsten durch frühzeitige Angebote begegnet werden kann, da sie präventiv und kompensativ wirkenDiese Angebote konkretisieren sich hier im Begriff “Family Literacy”, welcher in den letzten Jahren verstärkt pädagogische Aufmerksamkeit auf sich zog. Um zu verstehen, was Family Literacy bedeutet und welche Aufgaben und Herausforderungen für Sie als Lehrperson damit verbunden sind, nehmen wir zunächst die Entwicklung der kindlichen Lesesozialisation unter die Lupe.

Die kindliche Lesesozialisation

Der Ausdruck “Lesesozialisation” kann als Fusion zweier Begriffe verstanden werden. Zum einen beinhaltet er die Leseentwicklung, welche einen natürlichen, inneren Prozess beschreibt und zum anderen die Leseerziehung, welche gegenteilig eine intentionale Beeinflussung durch Dritte meint. Die ehemalige Professorin für Deutsche Sprache und Literatur mit dem Schwerpunkt Lese- und Mediensozialisation Christine Garbe kritisiert, dass der Begriff „Leseentwicklung“ den pädagogischen Einfluss von Eltern bzw. Erzieherinnen und Erziehern unterschätze, während der Begriff „Leseerziehung“ diesen wiederum überschätze.[3]

Mädchen blättert in einem Kinderbuch

Erkenntnisse aus der Sprachwissenschaft belegen ferner, dass der Umgang mit und die Aneignung von Wort und Schrift ein interaktiver Lernprozess ist, welcher sich einer Mischung aus beiden Komponenten bedient – einem natürlichen und einem gesteuerten Einfluss. Aus diesem Grund wurde der Ausdruck “Lesesozialisation” geboren, der Lesen als aktive Sinnkonstruktion in Abhängigkeit zur Umwelt des Individuums beschreibt.

Im Groben ist damit die Aneignung der Kompetenz zum Umgang mit Schriftlichkeit in unterschiedlichen Medienangeboten gemeint. Eine positive Lesesozialisation bildet somit die Basis für einen gelingenden Schriftspracherwerb. Das stellt einige Anforderungen an die Lernenden:

Lesesozialisation - Kompetenzen und Anforderungen an Lernende


Lesemotivation

  • Neugier und Interesse für Geschichten
  • Zielstrebigkeit und Ausdauer beim Lesen bzw. Kompetenzerwerb
  • Bedürfnis, Dinge und Beziehungen verstehen zu wollen

Handhabung von Büchern

  • Buch richtig herum halten
  • Seiten und Sätze von links nach rechts lesen
  • Seiten nacheinander durchblättern
  • sorgfältiger Umgang

Kommunikationsinteresse

  • Rückfragen zum Gehörten bzw. Gelesenen stellen
  • Fragen beantworten
  • aufmerksam zuhören
  • dialogische Kommunikation aufrecht erhalten

Verstehen und Einordnen fiktionaler Texte

  • auf Weltwissen, Lebenserfahrung und literarische Erfahrungen zurückgreifen
  • bisherige Wissensbestände (reales Alltagswissen und vorhandene literarische Kenntnisse) vergleichen und aktualisieren

Imaginationsfähigkeit

  • Abstraktion von Realität und Fiktionalität
  • fantasieren und kreativer, spielerischer Umgang mit Sprache
  • wird auch geleistet, sobald das Kind von vergangenen Ereignissen erzählt, da der erzählte Moment in diesem Augenblick nicht präsent ist[1]

Wer oder was beeinflusst die Lesesozialisation?

Wenn Sie die Lesesozialisation eines Kindes unterstützen und somit den Schriftspracherwerb fördern möchten, ist es von Vorteil, die Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Lesesozialisation zu kennen. Angelehnt an Garbe können die verschiedenen Einflüsse anschaulich in einem Drei-Ebenen-Modell dargestellt werden.

Den Grundstein bildet die Gesellschaft mit ihren Normen. Auf der nächsten Stufe finden die Einflussfaktoren Familie, Peergroups und das Bildungssystem, bzw. die pädagogischen Institutionen wie Kita und Schule, ihren Platz. Die oberste Ebene repräsentiert letztendlich den individuellen Leser oder die Leserin.

Lesesozialisation auf drei Ebenen

Das Modell ist nach Garbe wie folgt zu verstehen:

  • Die Akteure auf der mittleren Ebene (Fachkräfte in Kitas und Schulen, Familie, Peers) orientieren sich an den gesellschaftlichen und politischen Vorgaben der unteren Ebene (Bildungsnormen, Lehrpläne).
  • Eltern bzw. Lehrkräfte oder Peers ko-konstruieren nun aus diesen Vorgaben und ihrer eigenen Lesesozialisation individuelle Erziehungs- bzw. Unterrichts- oder Verhaltensmuster, die sie an die Leserin oder den Leser mal implizit und mal explizit weitergeben.
  • Die individuellen Leserinnen oder Leser ko-konstruieren daraus wiederum ihre persönliche Lesebiografie.

Inwiefern die Ebenen im Alltag von Kindern miteinander kooperieren, wird vor allem in unterschiedlichen Forschungen zum Schriftspracherwerb in Abhängigkeit des sozialen Milieus des Lernenden deutlich.[3] Wagen wir einen Blick in die Forschungslage.

Was sagt die Forschung?

Ellinger und Koch verweisen gleich zu Beginn ihres Artikels über “Soziale Bedingungen des elementaren Schriftspracherwerbs” darauf, dass Studien von PISA und IGLU einen engen Zusammenhang zwischen schulischem Erfolg und sozialer Herkunft eines Kindes aufwiesen.[1] Trotz der Betonung darauf, dass dies kein deterministisches Verhältnis abbilde, da auch einige Jugendliche aus den unteren Sozialschichten herausragende Leseleistungen hervorbrächten, bleibt ein bitterer Nachgeschmack beim Betrachten dieser These.

Der großen Frage danach, wie sich lesebezogene Bildungs- und Verhaltensnormen der Gesellschaft auf die Leseentwicklung eines Kindes auswirken, geht auch Garbe in ihrer Arbeit zur Lesesozialisation nach. Auch sie verweist auf die empirisch gut belegten, schichtspezifischen Unterschiede innerhalb der Lesesozialisation und erklärt den Zusammenhang der beiden Aspekte mit Blick auf das Drei-Ebenen-Modell.

Die Entwicklung der frühen Lesesozialisation hänge davon ab, wie eine Familie die gesellschaftlichen Normen der untersten Ebene für sich selbst intern umsetze und wie die verschiedenen Aufgaben innerhalb der Familie gewichtet würden.[3]

Fallbeispiel: positive und negative Lesesozialisation

Garbe nimmt hier Bezug auf einen vereinfachenden und deshalb als kritisch bewerteten Artikel von Groeben und Schroeder aus dem Jahre 2004, in welchem die Autoren einen ‘Negativfall’ einer defizitären Lesesozialisation in einer Unterschicht-Familie einem plakativen ‘Positivfall’ einer optimalen Lesesozialisation in der Mittelschichtfamilie gegenüberstellen.[3]

Family Literacy - Einstellung zu Literalität

Positiv: Lesen macht Spaß!

Im Positivfall sei der Aspekt der Lebensfreude mit Kriterien der Literalität und Lesefreude verbunden und nicht kontrastiv gegenübergestellt. Hier würde Wert darauf gelegt, dass Lesen sowohl bildet als auch Spaß bereitet.

Negativ: Lesen bedeutet Arbeit!

Im prototypischen Negativfall läge die Priorität im Alltag vorrangig in der Lebensfreude-Norm, während literale Tätigkeiten als fremde und leistungsbesetzte Aktivitäten begriffen würden und im klaren Kontrast zur Lebensfreude stünden. Der individuelle Wissenserwerb rund um Schrift und Sprache würde in diesem Fall eher an Bildungseinrichtungen wie Kitas und Schulen delegiert.

Teufelskreis – Negative Erfahrungen werden weitergegeben

Der Ursprung solcher negativen Verhaltensmuster und Einstellungen von Eltern liegt meist in den eigenen Kindheitserlebnissen dieser. Sven Nickel beschreibt diese fortlaufende Spirale als Teufelskreislauf. Der Professor für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur erläutert:

“Die Erfahrung von Illiteralität – konkretisiert durch einen niedrigen Stellenwert von Sprache und Schrift im häuslichen Alltag – wurde in den Herkunftsfamilien der Betroffenen an sie weitergegeben. Sie selbst geben diese Erfahrung an ihre Kinder weiter.”[4]

kleiner Junge alleine mit Bilderbuch

Das habe zur Folge, dass familiäre literale Lernchancen von Kindern nicht oder nur begrenzt wahrgenommen werden können. Beispielsweise sei die Unfähigkeit mancher Eltern, Vorlesesituationen für das Kind anregend und belohnend zu gestalten, mit einem negativen Verhältnis zur Buchkultur verbunden, sodass sich Bildungsunterschiede auch vererben, selbst wenn sich Eltern Mühe geben.[1]

Dem üblichen Handlungsmuster beim Vorlesen wird im prototypischen Negativfall (wenn überhaupt) streng gefolgt, sodass sich für das Kind kaum Möglichkeiten zur Anschlusskommunikation bieten und es mit dem Medium letztendlich allein gelassen wird. So erlebt es nach Ellinger und Koch Texte als unveränderlich, kann nur schwer zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit unterscheiden und bleibt in seinem sprachlichen Erfahrungsschatz begrenzt.

Das Kind erwirbt so weder ein positives Verhältnis zur Schriftkultur, noch eine intrinsische Neugier auf Sprachspiele und Geschichten. Je nachdem, wie viel Wert die Kita dieses Kindes auf eine Hinführung zur Literalität legt, wird das Kind oft mit weit weniger guten literalen Voraussetzungen in den schulischen Alltag entlassen. Der Teufelskreis der Lesesozialisation kann sich dort fortsetzen.

Wie kann die Lesesozialisation gefördert werden?

Laut der vorangestellten Studie von Ellinger und Koch aus dem Jahre 2005 sei es nicht etwa die Schulbildung der Eltern, sondern vor allem konkrete Lebensgewohnheiten und vorgelebte Verhaltensweisen, die den größten Einfluss auf die Entwicklung der individuellen Lesesozialisation des Kindes haben.[1] Aus dieser wichtigen Erkenntnis und im Umkehrschluss zu den prototypischen Negativbeispielen lassen sich Kriterien ableiten, die einem Kind im familiären Umfeld Möglichkeiten bieten, einen positiven Verlauf der eigenen Literalität zu erleben. Das Stichwort lautet: Familiy Literacy.

Family Literacy – Was ist das?

Die Familie im Allgemeinen und Eltern im Speziellen fungieren im Leben von Heranwachsenden als erste und wichtigste Sozialisationsinstanzen und Sprachvermittler. Allein diese Tatsache schreibt Eltern eine Kernfunktion und unabdingbare Position innerhalb des Schriftspracherwerbs eines Kindes zu. Diese herausragende Bedeutung der Familie und Hauptbezugspersonen eines Kindes für den individuellen Schriftspracherwerb bildet den direkten Anknüpfungspunkt für familiäre Bildungsarbeit und sogenannte Family-Literacy-Programme weltweit.

Der Ausdruck “Family Literacy” setzt sich aus zwei Worten zusammen, welche jeweils sehr vielseitige Interpretationsmöglichkeiten eröffnen:

Familie liest gemeinsam auf dem Sofa

  • Family” schließt hier nicht nur die Eltern, sondern alle wichtigen Bezugspersonen im Leben eines Kindes mit ein. Dazu gehören auch Großeltern, Tanten und Onkel, betreuende Pädagogen oder große Geschwister, welche für die Kinder einen wichtigen und stetigen Stellenwert besitzen und somit Einfluss auf das tägliche Leben und den Schriftspracherwerb sowie die Lesesozialisation des Heranwachsenden haben.
  • Literacy” kann ins Deutsche als ‘Lese- und Schreibkompetenz’ übersetzt werden, umfasst aber weit mehr. Zum Literacy-Begriff gehören unter anderem Text- und Sinnverständnis, Vertrautheit mit Büchern und Schriftsprache, Leseinteresse, sprachliche Abstraktionsfähigkeit, schriftliche Ausdrucksfähigkeit und Medienkompetenz, wie Michaela Ulich beschreibt. Literacy kann laut Ulich als Sammelbegriff für kindliche Erfahrungen “rund um die Buch-, Erzähl- und Schriftkultur” verstanden werden, wie sie in ihrem Artikel zur sprachlichen Bildung im Elementarbereich verdeutlicht.[5]

Die Entwicklung dieser Kompetenzen beginnt in der frühen Kindheit und wirkt sich auf alle Bereiche der kindlichen Lesesozialisation aus. Family Literacy kann also zusammenfassend als familienorientierte Bildungsarbeit zur Sprach- und Literalitätsförderung verstanden werden oder, wie Nickel umschreibt, als “Strukturierungshilfe für kooperative Austauschprozesse”[5] bei welcher verschiedene Generationen miteinander tätig werden. Family Literacy ist kein einheitliches Programm, sondern gliedert sich in verschiedene Bereiche. Das sind unter anderem:

  • literale Praktiken innerhalb der Familie
  • Zusammenarbeit von Schulen und Familien
  • öffentliche, generationsübergreifende Interventionsprogramme

Family Literacy zu Hause (Eltern)

Den größten Einfluss auf diesen kindlichen Prozess haben, wie bereits erwähnt, die von den Eltern vorgelebten Gewohnheiten und Verhaltensweisen rund um die Schriftsprachkultur im familiären Alltag. Aus den vorgestellten Studien lassen sich Kriterien für pädagogisch wertvolles Handeln innerhalb der Familie ableiten, die den Schriftspracherwerb des Kindes angemessen unterstützen können. Auch für Lehrkräfte ist dieses Wissen relevant, da sich hier Anknüpfungspunkte für die pädagogische Praxis finden lassen.  

Was Eltern tun können


Mündliche Kommunikation im Alltag

  • Gedichte
  • Reime
  • Familiengespräche
  • Rollenspiele (z.B. Kaufladen)

Früher Zugang zur konzeptionellen Schriftlichkeit (im Medium der Mündlichkeit)

  • Geschichten vorlesen
  • Kinderliteratur und Bilderbücher
  • Sprachspiele
  • Kinderlieder

Literarische Anschlusskommunikation

  • über Gelesenes austauschen (z.B. über die Figuren und ihre Entscheidungen)
  • Nach- und Rückfragen stellen bzw. beantworten
  • gelesene Geschichten weiterdenken

Mediennutzungsverhalten der Eltern (Vorbildfunktion)

  • persönliche Lesegewohnheiten
  • Nutzung unterschiedlicher Lesemodi: zur Informationsbeschaffung, zur kommunikativen Teilhabe oder zum persönlichen Vergnügen
  • Nutzung digitaler Medien

Gemeinsame Nutzung kultureller Freizeitangebote (außer Haus)

  • Theater
  • Kino
  • Konzerte
  • Museum

Lebensfreude und Gelassenheit

  • konsequente Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit
  • Genussfähigkeit im Bezug auf Urlaub, Freizeit und Entspannung
Garbe betont, dass die Umsetzung jener aufgeführten Kriterien und Optionen nicht garantieren kann, dass das Kind sich zu einem interessierten lesenden Individuum entwickelt. Die Lesesozialisation verläuft immer individuell, sodass sich innerhalb des Prozesses auch immer wieder unerwartete Leseratten oder desinteressierte Nichtlesende herauskristallisieren können.[3]

Lehrkräfte können dieses Wissen nutzen, um es entweder im Sinne des Bildungs- und Erziehungsauftrages an Eltern weiterzugeben oder um den angeführten Punkten auch im Unterricht eine tragendere Rolle zuzuweisen.

Die herausragende Rolle des Vorlesens

Familie beim gemütlichen Vorleseritual

Die Vorlesesituation zwischen Eltern und Kind als solche wird in mehreren Artikeln und Untersuchungen besonders herausgehoben, da sie einen weiten und pädagogisch reichhaltigen Lern- und Erfahrungsraum bietet. Von Bruner als Schlüsselsituation für den Schriftspracherwerb bezeichnet, beinhaltet das Vorleseritual innerhalb der Familie verschiedene förderliche Funktionen.

Vorlesen ist nicht gleich Vorlesen und kann, wenn die Situation nicht anregend oder altersgerecht gestaltet ist, auch negative Effekte auf die Lesesozialisation des Kindes haben. Um das Vorleseritual gelingend zu gestalten, muss das ein oder andere Elternteil sicher über den Erfahrungsschatten aus der eigenen Kindheit springen und gewisse starre Muster durch neue, flexiblere ersetzen. Doch es lohnt sich in jedem Fall für alle Beteiligten, wenn folgende Dinge Beachtung finden:

  • Regelmäßigkeit: Ritual, geschützter Rahmen, regelmäßige Wiederholung
  • Gemütlichkeit: angenehme, ruhige Atmosphäre
  • Kommunikation: Fragen und eigene Gedanken sind erwünscht
  • Schriftlichkeit: elaboriertere Sprache durch Erzählstruktur der Geschichte

Family-Literacy-Programme (Eltern)

Für Eltern, die Informationen rund um die kindliche Lesesozialisation benötigen, kann es sinnvoll sein, an öffentlichen Literacy-Programmen teilzunehmen. Die Programme richten sich in Deutschland größtenteils an Vorschul- und Grundschulkinder und an sozioökonomisch benachteiligte Familien und Familien mit Migrationshintergrund. Eine Auswahl an aktuellen Konzepten befinden sich in unserem Beitrag zu öffentlichen Family-Literacy-Programmen.

Family Literacy in der Schule (Lehrkräfte)

Die nun mehrfach erläuterte Ungleichheit der kindlichen Voraussetzungen innerhalb der familiären Lesesozialisation hört nicht mit Eintritt in den Kindergarten oder die Schule auf. Auch in pädagogischen Einrichtungen ist das Angebot für Literacy-Erfahrungen sehr unterschiedlich gestaltet. Je nach den Rahmenbedingungen, pädagogischem Konzept und/oder Vorlieben der Fachkräfte sammeln Kinder auch in Lehr- und Lerneinrichtungen verschiedene Erfahrungen und bilden dadurch unterschiedliche Voraussetzungen aus.[6]

Mutter liest mit ihrer Tochter

Während in der einen Kita oder Schule Wert auf eine tägliche und spielerische Begegnung mit Schriftlichkeit gelegt wird, ist eine andere völlig schriftfrei gestaltet mit nur wenigen Möglichkeiten, sich mit Schriftkultur auseinanderzusetzen. Gerade für Kinder mit Migrationshintergrund, deren Muttersprache nicht Deutsch ist und deren Eltern die Landessprache noch nicht gut beherrschen, sind die aufgeführten Punkte aus dem vorherigen Abschnitt nur schwer umzusetzen – zumindest in deutscher Sprache. Das Vorlesen von Kinderbüchern in den jeweiligen Muttersprachen der Eltern fördert zwar nicht unmittelbar den Spracherwerb im Deutschen, wirkt sich aber extrem positiv auf die Lesemotivation der Kinder aus und trainiert gleichwohl die Areale im Gehirn, die für die Sprachentwicklung zuständig sind.

Herrscht innerhalb der Familie die Muttersprache vor oder sind nur unzureichende Deutschkenntnisse vorhanden, sehen sich Eltern oft im Zwiespalt zwischen dem Willen, ihrem Kind einen erleichterten Schulstart in Deutschland zu bieten, und der eigenen Unsicherheit, daran selbst (zumindest auf sprachlicher Ebene) unterstützend mitwirken zu können. Hier bietet sich eine Zusammenarbeit von pädagogischen Einrichtungen mit den Eltern und/oder Familienmitgliedern an.

Auch ohne die Unterstützung von öffentlichen Trägern und konzeptionellen Institutionen gibt es vielfältige Möglichkeiten, Eltern in den schulischen Alltag des Kindes zu integrieren und so kooperative Verbindungen zu schaffen, die dem Kind den schulischen Alltag erleichtern.

Was Lehrkräfte tun können


regelmäßige Elternbesuche

  • Vorlese-Stunden oder Lese-Patenschaften mit Eltern eines Kindes der Lerngruppe arrangieren
  • die Form der Literatur (Bilderbücher, Geschichten, Märchen…) sollte frei wählbar sein und im Austausch mit den verschiedenen vorhandenen Kulturen und Muttersprachen innerhalb der Gruppe geschehen
  • auch möglich: Kinder bringen ihre Lieblingsbücher mit und stellen sie gemeinsam mit Eltern vor
  • funktioniert auch mit musikalisch gestalteten Elternbesuchen, bei welchen Lieder ggf. in verschiedenen Sprachen gesungen werden

Themennachmittage und Feste rund um Literatur

  • mit Einbezug anderer Kulturen
  • bietet sowohl Eltern als auch Kindern eine Plattform zum Kennenlernen und Austauschen und stärken den Gemeinschaftssinn der Gruppe
  • auch möglich: Rollenspiele, Handpuppen- oder Schattentheater als gemeinsame, gruppeninterne Eltern-Kind-Aktionen

Exkursionen und Ausflüge zu außerschulischen Lernorten

  • gemeinsamer Theater-, Museums- oder Kinobesuch
  • Eltern und Großeltern als unterstützende Begleitpersonen
  • beteiligen sich ebenfalls an der Organisation der Ausflüge

gemeinsame Raumgestaltung

  • den Klassenraum in Zusammenarbeit mit Eltern mit selbstgemalten Bildern der Kinder schmücken
  • einzelne Räume und Gegenstände zur Orientierung beschriften und Plakate gemeinsam gestalten
  • einen Briefkasten für jedes Kind an den Tischen anbringen zur spielerischen, schriftbasierten Austauschmöglichkeit untereinander
  • verschiedene Schriftzeichen (z.B. aus dem arabischen oder griechischen Alphabet) aufhängen, um kulturelle Vielfalt rund um Schrift zu erfahren

Einrichtung einer Leseecke

  • Eltern und Kinder wählen gemeinsam Bücher und Hörspiele in den jeweiligen Muttersprachen der Kinder aus
  • Lesestoff für unterschiedliche Kompetenzniveaus bereitstellen
  • gemütliche, einladende Atmosphäre gestalten

Computerkurs für Eltern und Kinder

  • gemeinsame Teilnahme von Eltern und Kindern am Kurs
  • sprachliche Anweisungen, Symbole und Ausführungen verstehen und selbst durchführen
  • Medienkompetenz stärken
Die Teilhabe der Eltern am schulischen Alltag der Kinder ist auch für die Kinder selbst etwas sehr besonderes, da sie sich auf Augenhöhe begegnen und hier Eltern von Kindern lernen können. Kinder dürfen in Expertenrollen schlüpfen und ihren Eltern zeigen, wie ihr Alltag aussieht und was sie schon alles gelernt haben. Das kann für einen enormen Motivationsschub der Lernenden sorgen.

Herausforderungen für Lehrkräfte und Schulen

Eine effektive sprachliche Förderung in Zusammenarbeit von Schulen und Familien kann nur gelingen, wenn gewisse zeitliche, personelle und materielle Ressourcen dafür bereitgestellt werden können. Eine solch intensive Elternarbeit stellt offensichtlich einen nicht zu unterschätzenden Zeitfresser dar. Besonders zu Beginn müssen engagierte Lehrkräfte Mehrarbeit leisten, Teile ihrer Freizeit opfern und stellenweise koordinative Höchstleistungen vollbringen, um ein Family-Literacy-Projekt erfolgreich durchführen zu können.

Eltern und Lehrkräfte kooperierenWeiterhin stellt sich die Frage nach der angemessenen Vorbereitung für Erziehungsfachkräfte und Lehrpersonen, der einen zusätzlichen Bedarf an Fortbildungen und Informationsveranstaltungen deutlich macht. Die Förderung interkultureller Kompetenzen und der Bereich “Deutsch als Zweitsprache” sind mittlerweile im Großteil der Ausbildungs- und Studienangebote für Pädagogik oder Erziehungswissenschaften inbegriffen, sichern jedoch aufgrund ihres immer noch sehr geringen Anteils der Studieninhalte keine fachliche Kompetenz (besonders im Hinblick auf die elterliche Sprachförderung).

Für Pädagoginnen und Pädagogen in Einrichtungen mit einer hohen Dichte an Kindern mit Migrationshintergrund bietet es sich an, separate Sprachkurse in den jeweiligen Muttersprachen zu besuchen. So wird nicht nur das Sprachwissen geschult, sondern ebenfalls das kulturelle Verständnis. Allerdings sind hiermit weitere zeitliche und finanzielle Aspekte verbunden, die sich nur schwer in den Alltag einer praktizierenden Lehrkraft integrieren lassen.

Wie gelingt Family Literacy?

Für Lehrkräfte und Schulen, die Family Literacy in den Schulalltag integrieren möchten, erwachsen aus den Chancen auch viele neue Herausforderungen. Family Literacy kann großartige Arbeit leisten und sehr wirkungsvoll für Eltern, Kinder und pädagogische Fachkräfte sein, wenn bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sind:

  • beidseitige Bereitschaft zu einer kontinuierlichen und motivierten Teilnahme
  • persönliches und längerfristiges Engagement auf allen Seiten
  • zeitliche, materielle und personelle Ressourcen sind ausreichend vorhanden
  • Fort- und Weiterbildungen für Lehrkräfte werden angeboten

Die Tatsache, dass vielen Familien der Stellenwert einer gelingenden Lesesozialisation für die Zukunftschancen ihrer Kinder nicht bewusst ist, scheint wohl das größte Übel. Wie so oft ist die Bekämpfung dieses Übels nur durch ausreichende Aufklärung möglich. Family-Literacy-Konzepte – ob privat, an Einrichtungen oder in integrativen Programmen – sollten für die Öffentlichkeit transparenter werden. So, wie auch Theaterstücke, Konzerte oder Stadtführungen beworben werden, können Themenabende und kostenfreie Informationsveranstaltungen für Family Literacy angeboten werden. An den Wänden von Kitas, Schulen, Volkshochschulen oder an öffentlichen Litfaßsäulens können Plakate aufgehängt werden.

Erst wenn eine breite Aufklärung über die Relevanz der kindlichen Lesesozialisation angestrebt wird und der Stellenwert des Elternhauses für eine positive Sprachentwicklung in das öffentliche Bewusstsein gelangt, bietet sich eine reale Möglichkeit, Chancengleichheit zu ermöglichen.

Quellen:

[1] Ellinger, Stephan und Koch, Katja: Soziale Bedingungen des elementaren Schriftspracherwerbs. In: Sasse, Ada und Valtin, Renate (Hrsg.): Schriftspracherwerb und soziale Ungleichheit. Zwischen kompensatorischer Erziehung und Family Literacy. Berlin 2006, S. 126-134

[2] Sasse, Ada: Aufwachsen mit Schrift. Zugänge zur Schriftkultur in den Bildungsprogrammen der Bundesländer für den Elementarbereich. In: Hoffmann, Bernhard und Sasse, Ada (Hrsg.): Übergänge. Kinder und Schrift zwischen Kindergarten und Schule. Frankfurt am Main 2005, S. 192-222.

[3] Garbe, Christine: Lesesozialisation. In: Garbe, Christine; Holle, Karl und Jesch, Tatjana: Texte lesen. Textverstehen, Lesedidaktik, Lesesozialisation. Zweite, durchgesehene Auflage. Paderborn 2010, S. 169-243.

[4] Nickel, Sven: Family Literacy – Familienorientierte Zugänge zur Schrift. In: Panagiotopoulou, Argyro und Carle, Ursula (Hrsg.): Sprachentwicklung und Schriftspracherwerb. Beobachtungs- und Fördermöglichkeiten in Familie, Kindergarten und Grundschule. Baltmannsweiler 2004, S. 1-14.

[5] Ulich, Michaela: Literacy – sprachliche Bildung im Elementarbereich. In: Kindergarten heute. Heft 3. Freiburg 2003, S. 6-18.

[6] Elfert, Maren und Rabkin, Gabriele: “Family Literacy” – ein Projekt zur Förderung von familienorientierter Schriftkultur. In: Sasse, Ada und Valtin, Renate (Hrsg.): Schriftspracherwerb und soziale Ungleichheit. Zwischen kompensatorischer Erziehung und Family Literacy. Berlin 2006, S. 212-217.

Autorin: Carla

Für etwa drei Jahre schrieb ich Artikel für das phase6 Magazin und das Lehrkräfte Magazin. Mit besonderer Vorliebe widmete ich mich dabei spannenden Themen der pädagogischen Psychologie in Theorie und Praxis. Während meines Referendariats an einer Berliner Grundschule schrieb ich Erfahrungsberichte und gab einen Einblick in meinen Schul- und Ausbildungsalltag. Mittlerweile befinde ich mich in der turbulenten Berufseinstiegsphase und darf eine jahrgangsgemischte Lerngruppe an einer montessori-orientierten Grundschule in Berlin unterrichten.