Kinder wachsen in unterschiedlichen Elternhäusern auf, so viel ist klar. In diesen Elternhäusern herrschen unterschiedliche Sprachniveaus vor, die abhängig sind vom Kontext, in dem gesprochen wird, und von der Kompetenz der Sprechenden. Das sorgt dafür, dass Kinder unterschiedliche sprachliche Kompetenzen ausbauen und mit ebenso ungleichen sprachlichen Voraussetzungen in die Schule kommen. Lehrkräfte, die solch heterogene Lerngruppen unterrichten, können sich nicht an jedes Sprachniveau individuell anpassen und verwenden Bildungssprache von Anfang an. Zum einen, um sich an einem Sprachregister orientieren zu können und zum anderen, um bei den Lernenden Stück für Stück bildungssprachliche Kompetenzen aufzubauen.

Doch welche Auswirkungen hat der Wechsel vom Sprachregister des Elternhauses zur schulischen Bildungssprache auf Kinder und ihre Bildungsbiografien? Und welche konkreten Maßnahmen können Lehrkräfte ergreifen, um den heterogenen Sprachkompetenzen gerecht zu werden? Diesen Fragen geht der folgende Beitrag auf den Grund.

Die Macht der Sprache

Sprachliche Kompetenzen haben einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Als Mittel zur Expression beinhaltet Sprache neben orthographischen Strukturen auch wichtige soziale Funktionen. Sie gilt “als Praxis der sozialen Interaktion, der Mitteilung und Verständigung, des Austausches, der Auseinandersetzung mit anderen über anderes.”[1] Die Fähigkeit zur sprachlichen Verständigung kann demnach als Werkzeug zur Kultivierung verstanden werden. 

Sprechen lernen

Im Zuge dessen ist Sprache und ihre individuelle Verwendung sowie Rezeption auch wesentlich an der Konstruktion von Identität beteiligt. Die Definition von Sprache, welche auch diesem Beitrag zugrunde liegt, findet folglich in einem weitläufigen Rahmen statt: Sie schließt sowohl die explizit gesprochene und geschriebene Sprache ein als auch nonverbale Zeichen wie Mimik, Gestik und Körperhaltung. 

Sprachliche Signale, ob verbal oder nonverbal, werden zwischen Sender und Empfänger interpretiert und können laut der Habitus-Theorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu Aufschluss über den Sozialisationshintergrund der Sprechenden geben, genauer: über das Umfeld, in welchem die individuelle Sprache erworben und habituiert wurde. 

Die unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen verschiedener Kinder bringen ebenso ungleiche verbale (an der gesprochenen Sprache orientierte) und literale (an der Schriftsprache orientierte) Voraussetzungen mit sich, mit welchen Kinder eingeschult werden. Bei der Einschulung befindet sich jedes Kind auf einem anderen Sprachniveau, bedingt durch die individuellen Sozialisationsbedingungen des jeweiligen Elternhauses und sozialen Umfelds.

Der Umgang mit dieser sprachlichen Heterogenität im Unterricht – speziell im Hinblick auf die Verwendung von Bildungssprache – kann über den Schulerfolg sowie über den langfristigen Zugang zu Bildungschancen der Schülerinnen und Schüler entscheiden. Geht die Lehrkraft von einem einheitlichen Sprachniveau aus, ist die Gefahr groß, dass sich Kompetenzunterschiede und sprachliche Defizite verfestigen. Die Schule trägt somit nicht etwa dazu bei, Bildungsungleichheit zu mindern, sondern Ungleichheiten zu reproduzieren. 

Klasse mit unterschiedlichen Muttersprachen

Es stellt sich also die Frage, welche konkreten Maßnahmen Lehrkräfte ergreifen können, um Kindern und Jugendlichen innerhalb heterogener Lerngruppen mehr Chancengleichheit zu ermöglichen. Um zu verstehen, wie sprachliche Heterogenität entstehen und sich entwickeln kann, unternehmen wir einen kurzen Exkurs in die Soziologie und nähern uns der Habitus-Theorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu.

Die soziolinguistische Sprechakt-Theorie Bourdieus

Die Habitus-Theorie Pierre Bourdieus beschäftigt sich mit den feingliedrigen sozialen Komponenten von Sprache und ihren Entstehungsbedingungen, Ausdrucksformen sowie Auswirkungen auf das sprechende Individuum innerhalb heterogener Gruppen einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft. Oder einfacher ausgedrückt: Bourdieus Habitus-Theorie beschreibt den Zusammenhang zwischen Sozialisationsbedingungen und Bildungschancen von Individuen.

Unter dem Fokus der Sprache und des Sprechens als “soziohistorisches Phänomen”, analysiert Bourdieu die Entwicklungsbedingungen von Sprache in Abhängigkeit vom sozialen Umfeld. Er skizziert die soziale Welt als

“[…] einen mehrdimensionalen Raum, der in relativ autonome Felder unterteilt ist; und in jedem dieser Felder nehmen Individuen Positionen ein, die sich nach der Menge der verschiedenen Arten von Kapital bestimmen, die sie besitzen.”[2]

Dieses sogenannte “Kapital” wird von Bourdieu in ökonomisches, kulturelles, soziales und sprachliches Kapital aufgeteilt. Ein Individuum sammelt in seinem Leben – abhängig vom sozialen Milieu, in dem es aufwächst – unterschiedliche Mengen an Kapital, also auch unterschiedliche Mengen sprachlichen Kapitals. 

Damit unterstützt Bourdieu, was eingangs erwähnt wurde: Kinder kommen mit sehr unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen in die Schule – je nachdem, unter welchen Sozialisationsbedingungen sie aufwachsen. 

In der Schule angekommen, finden diese Kinder allerdings oft ein vorgegebenes Sprachniveau vor, das sich vor allem im Gebrauch der Bildungssprache im Unterricht bemerkbar macht.

Mehr zur Habitus-Theorie nach Bourdieu...?

Der Habitus 

Als Habitus bezeichnet Bourdieu ein “Ensemble von Dispositionen, die die handelnden Individuen auf bestimmte Weise agieren und reagieren lassen.”[2] Die genannten Dispositionen sind dabei als implizit erlernte und dauerhaft einverleibte Wahrnehmungen, Werte und Einstellungen zu verstehen. In diesen Veranlagungen spiegeln sich laut Bourdieu unweigerlich die sozialen Entstehungsbedingungen jener Dispositionen wider. 

Ein Beispiel: Janas Mutter sagte während Janas Kindheit sehr häufig Sätze wie “Sitz gerade!”, “Sprich nicht mit vollem Mund!” oder “Zeig nicht mit dem Finger auf fremde Personen!”. Jana hat diese Sätze irgendwann in Taten umgesetzt und die Taten (in diesem Fall: Manieren) wurden allmählich zu fest verankerten Werten in Janas Kopf. Jana hat die Werte ihrer Eltern implizit übernommen und wird diese höchstwahrscheinlich auch an ihre Kinder weitergeben.

Der Professor für Schulforschung Rolf-Torsten Kramer fasst den von Bourdieu entwickelten Habitus-Begriff als “einverleibte, zur Person bzw. Natur gewordene Geschichte”[3] zusammen. Die erste Sozialisationsinstanz, durch die sich das Individuum im Laufe seines Lebens bestimmte Dispositionen aneignet, ist überlichweise das Elternhaus. Die frühzeitige und größtenteils unbewusst verlaufende Prägung des eigenen Habitus durch die Dispositionen der Bezugspersonen sorge laut Bourdieu dafür, 

“dass die Individuen durch ihren Habitus bereits dazu prädisponiert sind, auf bestimmte Art und Weise zu handeln, bestimmte Ziele zu verfolgen, sich zu bestimmten Vorlieben zu bekennen und so weiter.”[2]

Habitus (in der Mehrzahl wird das “u” lang gesprochen) werden laut Bourdieu in unterschiedlichen “sozialen Feldern” erworben. Diese Felder sind mit gesellschaftlichen Milieus zu vergleichen. Das heißt: Ein Individuum wächst in einem bestimmten sozialen Feld auf und hat dadurch bestimmte Formen, Möglichkeiten und Grenzen seines Handelns. 

Das Bündel internalisierter Dispositionen verleihe dem Individuum auf kognitiv-emotionaler Ebene weiterhin eine Art ‘praktischen Sinn’ für die kontextabhängige Angemessenheit eines bestimmten Verhaltens oder (sprachlichen) Ausdrucks. Auch auf körperlicher Ebene – der sogenannten Hexis – werde der einverleibte Habitus laut Bourdieu sichtbar, indem er sich sowohl beim Gehen, Reden, Lachen, Denken und Fühlen als auch in der Körpersprache bemerkbar mache. Da Habitus an Sozialisationsbedingungen angepasst sind und davon ausgegangen werden kann, dass Individuen in gleichen sozialen Feldern dennoch unterschiedliche Erfahrungen in unterschiedlichen zeitlichen Abfolgen machen, können sich Habitus individuell verändern oder erweitern, was den bei Bourdieu anklingenden und oftmals kritisierten Fatalismus seiner Theorien etwas abmildert.

Der sprachliche Habitus 

Als Untergruppe des Habitus bildet der sprachliche Habitus eine weitere Dimension der körperlichen Hexis, da er hinsichtlich einverleibter Lippenbewegungen, Akzente oder Intonationen beim Sprechen ebenfalls ein vom Individuum inkorporiertes Konstrukt darstellt. Bourdieu konstatiert, dass sprachliche Äußerungen stets als “Produkt des Verhältnisses zwischen einem sprachlichen Habitus und einem sprachlichen Markt”[2] verstanden werden können. 

Sprechende erwerben folglich individuelles sprachliches Kapital auf den sprachlichen Märkten ihres sozialen Umfelds und passen ihr Sprachrepertoire – ganz im Sinne des praktischen Sinns –  an den jeweiligen Markt und die in ihm anerkannten sprachlichen Produkte an. Verschiedene Sprechende besitzen vor diesem Hintergrund unterschiedliche Mengen sprachlichen Kapitals, da sie auf unterschiedlichen sprachlichen Märkten agieren. 

Je mehr sprachliches Kapital Sprechende auf verschiedenen Märkten erwerben, desto flexibler können sie sich an sich ergebende Situationen und Konventionen anpassen und desto höher sind gleichwohl die Chancen, auf dem jeweiligen sprachlichen Markt adäquat zu agieren und Anerkennung zu finden. Oder, anders formuliert: Je differenzierter das ausgebildete Sprachregister, desto größer das Sprachvermögen. 

Allerdings können Sprechende laut der Sprachwissenschaftlerin Yvonne Henkelmann nur innerhalb der habituell erworbenen Möglichkeiten situationsabhängig agieren und reagieren und die Ausbildung dieses sprachlichen Repertoires “wiederum hängt vom Zugang und der Quantität des Kontaktes mit den unterschiedlichen Öffentlichkeitsbereichen ab.”[4] Geschichtsprofessor Heiko Droste fasst das Phänomen der milieuinternen Reproduktion sozialer Strukturen durch sprachliche Voraussetzungen folgendermaßen zusammen:

“Das Individuum agiert innerhalb einer primär durch sprachliche Strukturen geprägten Lebenswelt, wobei seine Handlungen an die Möglichkeiten der Erfahrung von Welt gebunden sind.”[5]

Mit der Entwicklung einer offiziellen Amts- und Öffentlichkeitssprache – der Bidlungssprache – fand laut Bourdieu ein Vereinheitlichen der sprachlichen Märkte statt. Er nimmt an, dass die Durchsetzung einer öffentlich anerkannten, ‘legitimen Sprache’ sowie das daraus resultierende sprachliche Monopol, andere Sprachvarianten verdränge und folglich nur denjenigen von Nutzen sei, welche ohnehin einen leichten Zugang zu bildungssprachlichen Märkten haben. 

Warum ist Bildungssprache wichtig? 

Der Sprachgebrauch eines Menschen kann in unterschiedliche Register differenziert werden. Neben der Umgangs- und der Standardsprache können sich Sprechende beispielsweise am fach- und bildungssprachlichen Register bedienen. Die Kommunikation in der Öffentlichkeit (mittels Massenmedien wie Rundfunk und Zeitungen) sowie Bildungseinrichtungen ist überwiegend dem Register der Bildungssprache zuzuordnen. 

Öffentliche Medien sprechen Bildungssprache

Bildungssprache unterscheidet sich laut Habermas von der Umgangssprache insbesondere durch einen differenzierteren Wortschatz, der Fachvokabular miteinbezieht. Von der Fachsprache, welche lediglich innerhalb fach- bzw. berufsspezifischer Disziplinen erworben werden könne, unterscheide sich die Bildungssprache dahingehend, als dass sie “grundsätzlich für alle offensteht, die sich mit den Mitteln der allgemeinen Schulbildung ein Orientierungswissen verschaffen können.”[6] 

In öffentlichen Institutionen, Ämtern und Behörden angewandt, entfaltet die Bildungssprache ihre informationsvermittelnde Funktion und wird im Kontext einer gesellschaftlich anerkannten Öffentlichkeitssprache ebenso zur Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. 

Heranwachsende kommen mit der Bildungssprache, welche als “gesellschaftliches Gut, an dem die Individuen partizipieren sollen”[4] verstanden werden kann, spätestens mit Eintritt in die Schule in Kontakt. Bildungssprache ist Schulsprache. Im Unterricht wird sie aber meist nicht etwa gelehrt, sondern aktiv gesprochen – ohne Vokabellisten und Grammatikregeln. Und das hat Folgen, besonders für die sprachlich schwächeren Lernenden. 

Bildungssprache lernen?

Speziell in Großstädten sind Lerngruppen häufig von einer großen Heterogenität hinsichtlich sozial-kultureller, kognitiver, emotionaler oder sprachlicher Ausgangslagen geprägt. Teile der Lerngruppe, die innerhalb ihres sozialen Umfeldes die Chance hatten, auf diversen “sprachlichen Märkten” zu agieren, auf welchen Bildungssprache in natürlicher Manier gesprochen wurde, konnten bereits ein gewisses sprachliches Kapital erwerben, welches anderen Teilen der Lerngruppe fehlt.

Jene ‘privilegierteren’ Individuen haben demnach weniger Schwierigkeiten, sich dem schulischen Sprachregister anzupassen und größere Chancen, den jeweiligen Anforderungen gerecht zu werden, um gute Leistungen zu erzielen. 

“Mit der Durchsetzung dieser Sprachform als einzig anerkannte Sprachpraxis in offiziellen Räumen wird der sprachliche Markt vereinheitlicht und durch ein Sprachprodukt dominiert“[4], konstatiert Henkelmann im Bezug auf die offizielle Bildungssprache.

Wenn in Schulen ausschließlich Bildungssprache gesprochen und verlangt wird, werden jene diskriminiert, welche bisher keinerlei Zugänge zu diesem Sprachregister finden durften. 

Schule als Reproduktionsorgan sozialer Ungleichheit

Diese Individuen, die Bourdieu vorrangig den kleinbürgerlichen Milieus zuordnet, müssen sich im Gegensatz zu Individuen oder oberen Klassen mehr anstrengen, um den formellen Anforderungen des institutionellen Marktes zu entsprechen. “Sprecher ohne legitime Sprachkompetenz […]”, führt Bourdieu an, seien von sozialen Räumen “[…] in denen diese Kompetenz vorausgesetzt wird, ausgeschlossen oder zum Schweigen verurteilt.”[2] 

Chancenungleichheit in Schulen

Die Institution Schule könne demnach als Reproduktionsorgan sozialer Ungleichheit verstanden werden, da sie sich am sprachlichen Habitus sozial besser gestellter Milieus orientiert und bildungssprachliche Kompetenzen homogen voraussetzt, sodass beispielsweise Individuen anderer Muttersprachen oder Personen aus sozial schwachen Verhältnissen benachteiligt werden.

Kramer betont abschließend, dass die Anforderungen im Feld der Schule eine fundamentale Chancenungleichheit beinhalten und stellt – die Habitus-Theorie unterstützend – in seiner Schlussfolgerung eine zentrale Aufgabe der Schule heraus: Da der Erfolg oder Misserfolg im Bildungssystem von frühzeitigen Orientierungen abhänge, die von der ersten (familiären) Sozialisationsinstanz determiniert werden, müsse sich pädagogische Arbeit auf diesen primären Habitus beziehen und daran ansetzen

Die Anknüpfung an die individuellen Kompetenzniveaus und Erfahrungswelten der Lernenden ist ein pädagogisches Prinzip, welches sich unter dem Begriff des “Lebensweltbezugs” in beinahe allen didaktischen Anforderungen an Unterrichtsgestaltung finden lässt und insofern keinen innovativen Ansatz darstellt. Diese Anpassung verlangt allerdings eine explizite Vermittlung bildungssprachlicher Kompetenzen, welche auch heutzutage noch keine Selbstverständlichkeit im schulischen Kontext ist. 

Wie können Lehrkräfte intervenieren?

Um den Einfluss der sprachlichen Ausgangslagen einzelner Schülerinnen und Schüler auf ihren jeweiligen Bildungserfolg möglichst gering zu halten und somit die Chancengleichheit innerhalb einer heterogenen Lerngruppe zu fördern und zu erhalten, können Lehrkräfte gezielte Maßnahmen ergreifen.

Doch zunächst dürfte auf der Makroebene das Bildungssystem selbst in die Verantwortung gezogen werden. Durch die Segregation in unterschiedliche Schulsysteme und Leistungsgruppen werden den Heranwachsenden schon früh unterschiedliche Bildungschancen suggeriert und bestimmte Dispositionen symbolisch manifestiert. Jene Segregation unterstützt weiterhin die sogenannte Entitätstheorie nach Dweck et al., welche den Glauben an die Unveränderbarkeit der eigenen Fähigkeiten und Intelligenz beschreibt (siehe: Mindset – Die Psychologie des Lehrens und Lernens). 

Für die Betrachtung der Mikroebene gibt es drei wichtige Aspekte. 

1) Stereotypenbedrohung vermeiden

Stereotypenbedrohung meint die Befürchtung von Menschen bestimmter sozialer oder ethnischer Gruppen, durch ihr Verhalten ein negatives Stereotyp über sie zu bestätigen und somit einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu unterliegen. Das kann beispielsweise bei Mädchen im Matheunterricht vorkommen, wenn die Lehrkraft das Stereotyp vom naturwissenschaftlich unbegabteren Geschlecht (unbewusst) verinnerlicht hat. Lernende mit Migrationshintergrund, die die deutsche Sprache noch nicht auf muttersprachlichem Niveau beherrschen, sind ebenfalls häufig von Stereotypenbedrohung betroffen, welche sich nicht nur im Deutschunterricht, sondern in allen Fächern äußern kann, sobald es um die Versprachlichung von Sachverhalten geht. 

Stereotypenbedrohung vermeiden

Aktuelle Studien wie die von Hannover et al. beschäftigen sich weiterführend mit dem Einfluss von Stereotypenbedrohung auf den Wortschatzzuwachs von Grundschulkindern mit Migrationshintergrund und bestätigen die negativen Auswirkungen auf die Lernleistung unter dem Einfluss von Stereotypenbedrohung.[7]

Sie als Lehrkraft können Folgendes beachten:

  • stetige Selbstreflexion und kritische Introspektion im Hinblick auf eigene Meinungen und eventuelle Vorurteile
  • Bewertung nach individueller Bezugsnorm (prozess- statt ergebnisorientiert)
  • informelles Feedback bei Leistungsrückmeldungen 
  • Kommunizieren hoher Erwartungen an ALLE Schülerinnen und Schüler
  • Darstellung transparenter Unterrichtsverläufe und Anforderungen

2) Bildungssprachliche Kompetenzen fördern

Geht es speziell um den heterogenen sprachlichen Habitus von Schülerinnen und Schülern, können sprachfördernde Maßnahmen ergriffen werden, welche die Lernenden dazu befähigen, den fachsprachlichen Anforderungen gerecht zu werden. Dabei wird der Ansatz verfolgt, dass Bildungssprache zur Chancengleichheit beitragen kann, wenn sie allen Menschen gleichermaßen zugänglich gemacht wird.

Der expliziten Vermittlung bildungssprachlicher Elemente und Kompetenzen muss dementsprechend genügend Raum im Unterricht zugestanden werden. Zu diesem Zwecke kann es sinnvoll sein, das Sprachregister der Bildungssprache zunächst konkret zu thematisieren und gemeinsam mit der Lerngruppe Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachregistern herauszufinden.

Der Stellenwert von Bildungssprache in unserer Gesellschaft – als einheitlicher Code für den Zugang zu Bildung – kann mit Kindern erarbeitet werden, indem alltägliche Berührungspunkte und bildungssprachliche Kontexte gesammelt und erörtert werden (“Wo begegnet dir Bildungssprache im Alltag?”…). 

Sprachsensibler Unterricht mit Vokabellisten

Eine konsequente Förderung der sprachlichen Kompetenzen kann beispielsweise mithilfe von sprachsensiblem Unterricht gelingen, der eine durchgängige Sprachförderung in allen Fächern zum Ziel hat. Lehrkräfte können sich hierfür beispielsweise an den reichhaltigen Informations- und Materialzusammenstellungen auf den Bildungsservern der verschiedenen Bundesländer oder der Online-Plattform von Josef Leisen Anregungen holen.[8] Eine Art Vokabelliste mit fach- und bildungssprachlichen Ausdrücken sollte ebenfalls zu einem sprachsensiblen Fachunterricht dazugehören. Denn bildungssprachliche Kompositionen wie zum Beispiel “Tangente anlegen” können nicht als assoziativ erlernbar gewertet werden, sondern müssen als Lernwörter auswendig gelernt werden, damit den Lernenden im Matheunterricht nicht “Tangente machen” herausrutscht.

3) Sprachsensible Elternarbeit

Um am Ursprung der sprachlichen Sozialisation – dem primären bzw. familiären Habitus – anzusetzen, sollten Schulen und Lehrkräfte intensive Elternarbeit betreiben. Speziell Elternteile, die Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache erlernen oder aus sozioökonomisch benachteiligten Milieus kommen, sollten über sprachfördernde Maßnahmen und Initiativen informiert werden sowie aktiv dazu eingeladen werden, solche Angebote wahrzunehmen. 

Sprachsensible Elternarbeit

Familienorientierte Sprachbildungsprogramme (Family Literacy) sind bundesweit tätig und bieten sowohl Eltern und Kindern der oben genannten Zielgruppen, als auch pädagogischen Fachkräften ein vielfältiges Unterstützungsangebot zur Förderung sprachlicher Kompetenzen.

Auch Lehrkräfte können sich aktiv für einen sprachsensiblen Umgang miteinander einsetzen, indem beispielsweise Informationszettel und wichtige Mitteilungen an die Eltern der Lernenden in der jeweiligen Muttersprache übersetzt werden oder eine komplexitätsreduzierte Sprache verwendet wird. So können Lehrkräfte zeigen, dass sie einer beiderseitigen Kooperation und Verständigung wohlwollend gegenüberstehen und eine tiefere Vertrauensbasis zu den Eltern aufbauen. 

Kurz gesagt:

Sprache stiftet Identität. Diese Aussage gehört, stark vereinfacht, zu den Kernthesen der Habitus-Theorie Pierre Bourdieus. Sprachliche Identität, welche sich nicht nur im explizit-verbalen, sondern auch im impliziten Ausdruck in Mimik, Gestik und Körperhaltung niederschlägt, steht in starker Abhängigkeit zum Zugang zu sprachlichen Märkten und somit zur Sozialisation eines Individuums. Die daraus resultierende, sprachlich heterogene Ausgangslage, mit welcher Heranwachsende ihre Bildungsbiografie beginnen, wird vom (deutschen) Bildungssystem häufig nur unzureichend kompensiert. 

Da Bildungssprache und die darin enthaltenen fachsprachlichen Ausdrücke sowie Kompositionen zwar flächendeckend zur Wissensvermittlung im Unterricht verwendet wird, jedoch selten das Fachvokabluar als solches im Vordergrund didaktischer Überlegungen steht, werden sukzessive jene Individuen diskriminiert, die aufgrund ihres sozioökonomischen Hintergrunds nicht die Chance auf einen Zugang zu bildungssprachlichen Märkten haben. 

Lernende haben unterschiedliche Voraussetzungen

Bildungssprachliche Elemente sollten explizit im Unterricht thematisiert und besprochen werden. Bildungssprache sollte dabei ähnlich wie eine zu erlernende Fremdsprache behandelt werden, bei der bestimmte Vokabeln und grammatikalische Strukturen gelernt werden müssen, um die Sprache angemessen zu sprechen und zu verstehen.

Eine durchgängige Sprachförderung scheint folglich der Grundbaustein aller Lösungsideen dieses Dilemmas zu sein. Sprachsensibler Unterricht wird mittlerweile in der Fachdidaktik aller Unterrichtsfächer gefordert. Um dem Wunsch der Chancengleichheit für Schülerinnen und Schülern näher zu kommen, muss Bildungssprache allen Lernenden in allen Unterrichtsfächern gleichermaßen zugänglich gemacht werden. 

Ähnlich wie beim Erlernen einer Fremdsprache ist eine bewusste Variation sprachlicher Hilfestellungen bei Arbeitsaufträgen in der Unterrichtspraxis dafür sinnvoll und kann gegebenenfalls durch schulexterne, familienorientierte Literacy-Angebote ergänzt werden.

 

Quellen:

[1] Dietrich, Cornelie (2014): Sprache. In: Wulf, Christoph; Zirfas, Jörg (Hrsg.): Handbuch Pädagogische Anthropologie. Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 475-484.

[2] Bourdieu, Pierre (2005): Was heißt Sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches. Mit einer Einführung von John B. Thompson, 2., erweiterte und überarbeitete Auflage, Wilhelm Braunmüller Universität-Verlagsbuchhandlung Ges.m.b.H. Wien, S. 1-97.

[3] Kramer, Rolf-Torsten (2014): Kulturelle Passung und Schülerhabitus – Zur Bedeutung der Schule für Transformationsprozesse des Habitus. In: Helsper, Werner; Kramer, Rolf-Torsten; Thiersch, Sven (Hrsg.): Schülerhabitus. Theoretische und empirische Analysen zum Bourdieuschen Theorem der kulturellen Passung. Springer VS Wiesbaden, S. 183-202.

[4] Henkelmann, Yvonne (2012): Migration, Sprache und kulturelles Kapital. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH.

[5] Droste, Heiko (2001): Habitus und Sprache: Kritische Anmerkungen zu Pierre Bourdieu. In: Zeitschrift für historische Forschung, Vol. 28, Nr. 1, Duncker und Humblot Verlag Berlin, S. 95-120. 

[6] Habermas, Jürgen (1977): Umgangssprache, Wissenschaftssprache, Bildungssprache. In: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften München, S. 36-51.

[7] Hannover, Bettina; McElvany, Nele; Ohle, Annika; Sander, Andres; Zander, Lysann (2018): Stereotypenbedrohung als Ursache für geringeren Wortschatzzuwachs bei Grundschulkindern mit Migrationshintergrund. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaf No. 21, Heft 1, S. 177–197.

[8] Leisen, Josef: Sprachsensibler Fachunterricht.

Autorin: Carla

Für etwa drei Jahre schrieb ich Artikel für das phase6 Magazin und das Lehrkräfte Magazin. Mit besonderer Vorliebe widmete ich mich dabei spannenden Themen der pädagogischen Psychologie in Theorie und Praxis. Während meines Referendariats an einer Berliner Grundschule schrieb ich Erfahrungsberichte und gab einen Einblick in meinen Schul- und Ausbildungsalltag. Mittlerweile befinde ich mich in der turbulenten Berufseinstiegsphase und darf eine jahrgangsgemischte Lerngruppe an einer montessori-orientierten Grundschule in Berlin unterrichten.