Der Spracherwerb von Kindern verläuft unheimlich schnell. Bis zum Eintritt in die Grundschule haben sie sich bereits ein beschauliches Repertoire an sprachlichen Fähigkeiten angeeignet. Kinder im Alter von sechs Jahren haben für gewöhnlich einen ausreichend großen Wortschatz ausgebildet, um ihre Muttersprache fließend und für andere verständlich zu sprechen. Und das alles, ohne jemals eine Schule besucht zu haben. Wie machen sie das?

Wie lernen Kinder?

Wenn man Kinder auf dem Spielplatz miteinander interagieren sieht, wird schnell klar: Kinder lernen spielerisch. Sie beobachten ihre Umwelt, nehmen diese über ihre Sinne wahr und ahmen sie im praktischen Spiel nach. Spiele wie “Mutter, Vater, Kind” entstehen beispielsweise aus der Nachahmung des heimischen Sozialisationsumfeldes. Kinder versuchen so, sich ihre erlebte Wirklichkeit spielerisch anzueignen und diese durch das Spiel, also die eigene handlungspraktische Interpretation ihrer Realität, zu begreifen. Das Spiel kann somit als die älteste und elementarste Lernform begriffen werden.

Sprachentwicklung - Kinder lernen beim Spielen

Sogar Tierkinder lernen spielerisch! Durch das Rangeln und Raufen mit ihren Geschwistern und Artgenossen proben junge Tiere unter anderem den Ernstfall im späteren Erwachsenenleben. Außerdem halten sich die Tiere dadurch fit und stärken ihre Muskeln und Reaktionsfähigkeit. 

Sowohl die Spielmechanismen und -regeln als auch die Sprache innerhalb des Spiels entwickelt sich mit dem Alter der interagierenden Kinder. Folglich werden auch sprachliche Strukturen immer komplexer und genauer. 

Als “Spiel” kann dabei auch die alltägliche Interaktion mit den Bezugspersonen des Kindes verstanden werden. Sprachliche und metasprachliche Kommunikation zwischen Eltern und Kindern laufen meist sehr viel performativer und expressiver ab als alltägliche Unterhaltungen zwischen Erwachsenen. Diese kindgerechte Sprache, wie beispielsweise die überzogene Artikulation von Wörtern und die ausdrucksstärkeren Bewegungen, verwenden Eltern und Bezugspersonen meist ganz automatisch. Sie erleichtern dem Kind dadurch die Reizaufnahme und -verarbeitung. So kann sich die Sprachfähigkeit durch das Spiel mit der Sprache weiterentwickeln. 

Der kindliche Spracherwerb 

Hast du dich schon einmal gefragt, wie es dazu kam, dass du deine Muttersprache perfekt erlernt hast? Ganz ohne Unterricht oder Vokabelheft haben wir alle allmählich gelernt, zu sprechen und haben uns bis zum Eintritt in die Grundschule zu ganz passablen Sprecherinnen und Sprechern entwickelt – wie von Zauberhand. Wir haben uns unsere Muttersprache irgendwie automatisch angeeignet, oder? 

In der pädagogischen Psychologie gibt es unterschiedliche Theorien darüber, wie sich Kinder ihre Muttersprache aneignen. Hier ein kleiner Einblick in die Hauptströmungen zum augenscheinlichen Wunder des kindlichen Spracherwerbs im Behaviorismus, im Nativismus und im Interaktionismus:

Theorien zum kindlichen Spracherwerb

Behaviorismus

  • Sprachenlernen ist eine sich permanent wiederholende Folge von Reiz und Reaktion, also z.B. Vorsprechen und Nachsprechen. 
  • Der Lernprozess wird beschleunigt, wenn das korrekte Nachsprechen positiv verstärkt wird, z.B. durch Lob, Zuspruch, Stolz, Lächeln, Bestätigung. 
  • Aber: Die Theorie erklärt nicht, wie Kinder grammatikalische Strukturen lernen und transferieren.

Sprachentwicklung - Behaviorismus

Nativismus

  • Sprachenlernen gelingt nur aufgrund einer angeborenen Universalgrammatik, ist folglich genetisch veranlagt (Chomsky 1970).
  • Nur so sei laut Chomsky erklärbar, dass alle (gesunden) Menschen unabhängig von ihrer Sozialisationsumgebung in etwa zur gleichen Zeit die grammatikalischen Regeln anzuwenden lernen.
  • Die Theorie geht davon aus, dass Kindern die sprachspezifische Fähigkeit angeboren ist, aus der gehörten Sprache Regeln abzuleiten.

Sprachentwicklung - Nativismus

Interaktionismus

  • Bruner (2002) vertritt die Theorie von Chomskys sowie den behaviorisitschen Ansatz, stellt jedoch die Interaktion in den Mittelpunkt.
  • Sprachenlernen gelingt laut der Theorie nur durch die zusätzliche Unterstützung in Form von Kommunikation von bzw. mit Erwachsenen.
  • Ein Kind lernt weder alleine durch Nachahmung, noch alleine durch natürlichen Wachstumsprozess, sondern durch Kombination beider Theorien, wenn eine ausreichende Interaktion mit erwachsenen Sprecherinnen und Sprechern besteht.
  • Tomasello (2011) fügt hinzu, dass die sprachliche Interaktion von geteilter Aufmerksamkeit sowie geteilter Intentionalität lebe. Wenn Kinder etwas entdecken, richten sie ihren Fokus darauf. Sie zeigen auf den jeweiligen Gegenstand und erwarten die gleiche Aufmerksamkeit auch von ihrem Gegenüber. Ähnlich verhält es sich umgekehrt: Erwachsene zeigen auf etwas (z.B. in einem Bilderbuch) und versichern sich der Aufmerksamkeit des Kindes. “Erst auf dieser Grundlage kann dann das Sprechen als ein Wechselspiel komplementärer Interaktionsbeiträge entstehen.”[1]

Sprachentwicklung - Interaktionismus

Das interaktionistische Modell hat sich auch in verschiedenen modernen Ansätzen zur Sprachförderung niedergeschlagen. Fachkräfte aus der Pädagogik und Erziehungswissenschaft raten Eltern zur unterstützenden Kommunikation mit ihrem Kind durch sogenanntes Scaffolding.
Was ist Scaffolding und wie hilft es?
Der Begriff kommt aus dem Englischen und bedeutet übersetzt “Gerüst” (auch: “Gerüstbau” oder “Baugerüst”). Scaffolding meint im pädagogischen Kontext also die Unterstützung eines Lernprozesses durch eine Art Lerngerüst. Speziell auf den Spracherwerb bezogen ist Scaffolding sozusagen das sprachliche Gerüst, welches den Lernenden den Sprachlernprozess erleichtern soll. 

Dieses Lerngerüst entsteht primär durch die Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden: “Ein kompetenterer Partner (z. B. die Mutter, die Erzieherin) kann dem weniger kompetenten Partner (Kind) durch Interaktion helfen, seine kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten auszubauen.”[2]

Das Kompetenzniveau innerhalb einer solchen Interaktion liegt charakteristischerweise knapp über dem Kompetenzniveau der Lernenden, sodass diese ermutigt werden, sich herausfordernden Sprachsituationen zu stellen und sich nicht auf ihrem Lernstand auszuruhen. Ziel des Scaffolding ist es, das Sprachgerüst sukzessive abzubauen, je mehr die Lernenden können und sich zutrauen. Die Bauleitung wird also mehr und mehr den Lernenden selbst übergeben. 

Scaffolding wird vor allem bei Lernenden von Zweit- oder Fremdsprachen angewendet, entspringt aber den Lernmechanismen der Erst- bzw. Muttersprache. Der natürliche Erwerb der Muttersprache wird im Alltag ebenfalls durch die permanente Interaktion zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen gefördert. Die Interaktionen sind in besonderem Maße gekennzeichnet von gegenseitiger Aufmerksamkeit und behutsamen Aufeinandereingehen (z.B. in Form von Frage-Antwort-Spielen).

Die kindliche Sprachentwicklung von 0 bis 6 Jahren

Aber wie sieht der Spracherwerb von Kindern konkret aus? In welchem Alter entwickeln sich aus einzelnen Lauten Wörter und später sogar ganze Sätze? 

Diese kurze Zusammenfassung des Spracherwerbs bei Kindern kann natürlich nicht pauschal auf alle Kinder angewendet werden und ist eher als grober Richtwert zu verstehen. Die sprachliche Entwicklung verläuft – ebenso wie die körperliche oder geistige Entwicklung – sehr individuell und kann von Kind zu Kind unterschiedlich ausgeprägte Lernphasen aufweisen.

Wortschatz: Berühmte erste Wörter… 

Die ersten Wörter eines Kleinkindes richten sich sowohl nach den Wörtern, die das Kind in seiner Umgebung am häufigsten hört und braucht als auch nach seinen kognitiv-anatomischen Möglichkeiten der Aussprache. Die Sprachheilpädagogin Josepha Ege hat die häufigsten ersten Wörter im Spracherwerb von Kleinkindern entschlüsselt und nach Wortarten aufgeteilt.[3] Hier ein kleiner Überblick:

Kinder merken sich Wörter am schnellsten, wenn sie häufig und in kurzen Sätzen vorkommen. Wir verwenden die Funktionswörter “ja”, “nein” oder “da” im Alltag häufig in Form von Einwortsätzen. Ein Kind lernt so schnell, dass diese Lautkombinationen einzelne bedeutungstragende Begriffe sind, während es Wörter, die in lange Sätze eingebettet sind, schlechter voneinander trennen und folglich schwerer erlernen kann. 

Wie kann man den Spracherwerb fördern?

Die Förderung des Spracherwerbs geschieht im alltäglichen Umgang mit Kleinkindern – besonders beim Erstspracherwerb – ganz automatisch. Eltern und Bezugspersonen stellen sich ganz von allein auf die Sprachkompetenzen und Bedürfnisse ihrer Kinder ein und helfen dem Kind durch übertriebene Artikulation, Mimik, Gestik und Betonung oder durch den spielerischen und performativen Umgang mit Wörtern, sich die Welt der Sprache zu erschließen.

Etwas, das Eltern auch meist automatisch machen, sich dennoch ab und zu vergegenwärtigen sollten, ist die Interaktion mit korrigierendem Feedback. Ganz im Sinne des Scaffoldings erhält das Kind so nicht nur die Information, dass etwas an der eigenen Aussprache fehlerhaft war, sondern bekommt im selben Zug die richtige Lösung mitgeteilt, nach der es sich fortan richten kann.

  • Kind: “Aua, das hat wehgetut”
    • Elternteil: “Oh, wo hast du dir denn wehgetan?”
  • Kind: “Das da!”
    • Elternteil: “Du meinst die Schaukel?”
  • Kind: “Ein Diraffe!”
    • Elternteil: “Ja, das ist eine Giraffe!”

Weiterhin sind Kinderbücher ein wertvolles und nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel für den kindlichen Spracherwerb. Inwiefern Kinderliteratur und das Vorlesen und Erzählen von Geschichten im Kreis der Familie zur Sprachentwicklung beitragen kann, ist im Artikel zu Family Literacy vermerkt. 

Eine sehr bewusste und aktive Form der Sprachförderung bieten Sprachspiele. Welche Sprachspiele besonders für Kinder geeignet sind und welche sprachlichen Kompetenzen dabei trainiert werden, ist im Artikel für Sprachspiele zusammengefasst.

Zusammengefasst…

Kinder lernen ihre Muttersprache also nicht etwa “automatisch” oder “von ganz allein”. Eltern und weitere Bezugspersonen haben einen erheblichen Anteil an der kindlichen Sprachentwicklung. Durch spielerische und aufmerksame Interaktion werden die sprachlichen Kompetenzen von Heranwachsenden signifikant geprägt. 

Um den natürlichen Spracherwerb zu unterstützen und sprachliche Kompetenzen zu trainieren, eignen sich insbesondere das Geschichtenvorlesen, das Vorspielen von Hörbüchern und interaktive Sprachspiele.

Quellen: 

[1] Dietrich, Cornelie (2014): Sprache. In: Wulf, Christoph & Zirfas, Jörg: Handbuch Pädagogische Anthropologie. Springer VS Wiesbaden, S. 475-484.

[2] Kniffka, Gabriele (2010): Scaffolding.

[3] Ege, Josepha (2012): Spracherwerb des Kindes. Spracherwerb am Beispiel eines Kindes im Alter von zwei Jahren.